Es war Frühling und die Tage wurden langsam wieder wärmer. Die Sonne schien auf die große starke Eiche. Während sie ihre Wurzeln fest in der Erde verankert hatte, streckte sie ihre kraftvollen Äste in den Himmel. Die ersten Knospen begannen zu sprießen. Es dauerte nicht lange bis die Eiche in ihrem frischen, grünen Blätterkleid erstrahlte.

Es war ein kleiner, zarter Ast, der einen wild brausenden Windstoß abbekam. Er rüttelte so sehr an dem Ast, dass sich ein zartes Blättlein davon löste. Es war etwas dünner als die anderen und konnte sich dieser Kraft nicht erwehren. Der Wind blies das Blättlein hoch und höher hinaus, dass es flog wie ein Vögelein.
So schön das Schweben auch war, so wusste das Blättlein doch das etwas nicht stimmte. Es war noch viel zu früh gewesen um von Mutter Eiche und seinen Blattgeschwistern getrennt zu werden. Das Blättlein war noch viel zu klein und verletzlich. Es hatte noch keine Zeit gehabt sich zu entwickeln und heranzureifen. Es hatte auch noch nicht seine ihm zugedachte Aufgabe und Bestimmung erfüllen können: Luft aufnehmen und mit dem grünen Farbstoff der Blätter im Tageslicht aus Luft und Wasser die Nahrung für den Baum zu bereiten.
Es war viel zu früh. Es war viel zu viel Wind. Es gab zu wenig Sicherheit.
Hatten die Sonne und der Mond nicht eine Geschichte geflüstert von einem bunten Farbenkleid der Bäume im warmen Herbst? Erzählten sie nicht davon, dass die Eichen ihre braunen Blätter sogar noch bis in das Frühjahr hinein tragen würden?
Doch nun schwebte das gelöste Blättlein einsam durch die Luft. Es gab keinen Halten mehr. Das Eichenblatt war nicht mehr über die Wurzeln mit dem versorgenden Erdreich verbunden. Es fühlte sich schrecklich allein und hilflos. Seinen vorgezeichneten Weg konnte das Eichenblatt nun nicht mehr gehen. Es war getrennt von seinen Brüdern und Schwestern. „Das ist nicht richtig. Das ist ein Fehler der Natur.“, dachte das Blättchen.
Was sollte es jetzt tun? Es war unendlich traurig und wütend und verärgert. Was hatte das Eichenblatt nur falsch gemacht?
Der Wind wirbelte es weiter durch die Luft. Es war losgelöst und hatte jeglichen Kontakt mit dem Erdboden verloren. Was hatte es also falsch gemacht? Warum war es ausgerechnet ihm passiert? War es nicht gut genug? Hatte es sich nicht genug festgehalten? Wurde es von Mutter Eiche nicht genug geliebt und versorgt?
Das Blättchen wusste keine Antworten auf diese vielen Fragen. Jetzt liefen ihm die Tränen und es schluchzte bitterlich. So bekümmert war es.
Was sollte es nun machen, so einsam und verlassen es war? Würde es jemals einen neuen Sinn und eine neue Aufgabe finden? Das Blättchen wusste es nicht.
Nach einiger Zeit gab es sich dem Wind voll und ganz hin. Es ließ sich davon treiben. Auf eine Rückkehr zu Mutter Eiche und seine Geschwister hoffte es nicht mehr.
Nachdem sich einige dunkle Wolken am Himmel verzogen hatten, schien sanftes Sonnenlicht herab. Die Wärme der Sonne trockneten die Tränen des Blättchens und es spürte einen leichten Hauch von Geborgenheit. Und wie es tröstend im sonnigen Winde hin- und her gewogen wurde, veränderte sich seine Farbe von dunklem grün in ein helles und leuchtendes gelbgrün. Auch leichte herbstliche Rottöne wurden sichtbar.
Allmählich sank das Eichenblatt immer tiefer und schwebte nun ganz nah über dem Boden, bis es zum ersten Mal in seinem Leben die Erde auf seiner Haut spürte.
Ganz fest schmiegt es sich an seinen Untergrund und freut sich nach seiner langen Reise endlich gelandet zu sein. Hier unten ruht es selig und fällt in einen tiefen Schlaf während die Sterne am Himmel funkelten. „Gute Nacht lieber Mond“ denkt es, als es zu träumen begann.
Es träumte von seinen Brüdern und Schwestern und wie es hoch oben in der Baumkrone mit ihnen im Wind wiegte und tanzte. Es erzählte ihnen von seiner luftigen Reise. Das Blättchen schaute auch zu Mutter Eiche, welche ihr liebevoll und wohlwissend zuzwinkerte.
So verbrachte es die ganze Nacht, bis es am nächsten Tag erwachte.
Ein Geräusch! So schön und fröhlich. Was mag das nur sein? Auf einer Lichtung lachen zwei Kinderlein. Sie tragen jeweils ein Körbchen mit den Geschenken des Waldes: Tannenzapfen, Moosstücke, Steine und viele Blätter.

Ein Junge kommt ganz nah heran und betrachtet andächtig das kleine nun buntgefärbte Blättlein. Er nimmt es am Stiel auf und dreht es zwischen seinen Fingern hin und her. Der Junge sieht so glücklich aus, als er es anschaut. Vorsichtig, wie einen kostbaren Schatz, legte er das Geschenk von Mutter Eiche in seinen Korb.
Die Kinder spazieren noch eine Weile und sammeln noch viele Eichenblätter, die auf der Erde liegen. Zuhause werden die vielen Präsente des Waldes auf dem Tisch ausgebreitet. Die Kindern bewundern ihre schönen Naturschätze. Einige Zeit später kleben die Kinder Baumrinde auf ein Blatt Papier. Als nächstes kleben sie kleine Zweige drum herum. Zum Schluss suchen sie die schönsten Blätter aus und kleben sie um die Zweige herum.
Das Eichenblatt staunt und freut sich sehr. Es ist zu einem Baum zurück gekehrt, zwar etwas anders als zuvor, aber dafür ganz besonders. Es ist nicht mehr allein und es schwebt auch nicht mehr haltlos durch die Luft.
Das Blatt hat sich gewendet.
Das Blättlein hat eine neue Aufgabe und ein neues Zuhause gefunden.
Und das freudige Lachen der Kinder kann es zudem jetzt auch jeden Tag hören.