
*** triggerwarnung ***
Es war Liebeskummer, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Als sich mein erster Freund nach 1 Jahr von mir getrennt hatte geriet mein Essverhalten aus dem Gleichgewicht. Frustessen war meine Antwort auf mein gebrochenes Herz. Auch der Konsum von Alkohol nahm zu, aber davon soll hier nicht die Rede sein. Ich war jedenfalls todunglücklich.
Auf einmal habe ich so stark zugenommen, dass mir meine Kleidung nicht mehr passte. Das war für mich als ehemalige Geräteturnerin ein Alarmsignal.
Plötzlich habe ich mich sehr mit dem Thema Ernährung beschäftigt. Ich habe damals, mit 16 Jahren, verschiedene Broschüren und Ratgeber gelesen. Das Wissen habe ich aufgesogen. Doch je mehr ich mich damit befasste, desto weniger Lebensmittel blieben zum Verzehr übrig, die gesund sind und nicht dick machten. Auch verschiedene Nahrungsergänzungsmittel, die angeblich den Appetit senken oder ein Sättigungsgefühl auslösen sollten habe ich ausprobiert.
Am Ende war ich so dünn, dass ich in eine Klinik gehen musste. Dort sagte man mir, dass ich am Anfang einer Magersucht stehe. Das traf mich wie der Blitz. Ich fühlte mich gar nicht gesehen. Also beschloss ich weiter abzunehmen und fast nichts zu mehr essen. Im Dezember 1998 wurde ich entlassen, aber ohne Therapieerfolg.
Zuhause aß ich dann kaum noch etwas, obwohl ich mir extra sehr viele fettreduzierte und zuckerfreie Produkte gekauft hatte. Ich trank viel heißen Tee und Gemüsebrühe (ich habe immer gefroren) und kaute Kaugummis um etwas Geschmack im Mund zu haben ohne etwas zu mir nehmen zu müssen. Ich war für Ratschläge von anderen nicht mehr erreichbar.
Der Weg heraus

Meine Mutter befasste sich mit neuer Literatur. So kam es, dass ich dann ihr ausgelesenes Buch „Die Macht des Unterbewusstseins“ von Dr. Joseph Murphy in den Händen hielt. Das Lesen half mir sehr dabei, mein Problem wieder zu akzeptieren und anzuerkennen, welches ich völlig verdrängt hatte… In diesem Buch wurde über die Kraft von Beschlüssen berichtet und davon, was man wirklich will. Eines Abends sprang ich dann vom Lesen auf, stellte mich vor den Spiegel, schaute mir in die Augen und sagte mir: „ICH BIN nicht mehr magersüchtig!“ ICH BIN sind die mächtigsten Worte, die uns prägen können. Es war ein fester Beschluss. Ich wollte gesund sein. Ich wollte nicht, dass sich mein Leben nur um das Essen und das Abnehmen dreht. Dafür gibt es zu viele schöne Dinge auf dieser Welt.
Der erste Schritt war getan, der Allerwichtigste. Doch es gab noch einige Hürden zu nehmen…
Am nächsten Morgen ging ich in die Küche und wollte wieder mit dem Essen beginnen. Ich saß mit meiner Familie am Tisch und holte mir einen fettarmen Joghurt aus dem Kühlschrank. Ich sagte, dass ich Appetit auf Haferflocken hätte. Meine Mutter traute ihren Ohren kaum und holte sie aus dem Schrank. Ich schüttete die Flocken in meinen Joghurt. Meine Familie schaute mich mit großen Augen an. Als ich die ersten Löffel aß, begann meine Mutter fast an zu weinen. Sie war so froh, dass ich wieder etwas zu mir nahm. Ich stellte für mich eine Liste auf, in der ich links die gesunden Lebensmittel aufschrieb und rechts die ungesunden. Links standen z. B. Obst und Gemüse, rechts standen u.a. Schockolade und Kuchen. So begann ich wieder mit dem Essen und aß nur gesunde und vegetarische Sachen. Für mich hat das gut funktioniert.
(Am Rande sei erwähnt, dass das Auflösen der Magersucht zu einer neuen seelischen Beeinträchtigung führte. Ich hatte so lange auf Nahrung verzichtet, dass sich eine Schizophrenie entwickelt hatte. Diese kam erst langsam zum Vorschein, als ich wieder angefangen hatte zu Essen.)
Irgendwann wurde ich ermutigt ein Stück Kuchen zu essen. Kuchen war auf meiner gesunden Liste nicht vorgesehen. So brauchte es viel Zuspruch und Überredungskunst. Dann habe ich den Kuchen ganz langsam gegessen und war von dem Geschmackserlebnis, also dem Zucker, so begeistert, dass ich von da an mehr davon wollte. So begann ich auch die Lebensmittel von der rechten Seite zu essen. Ich nahm rasch zu, was anfänglich auch gut war weil ich so abgemagert war. Doch dann konnte ich kein gesundes Maß finden und die ungesunden Sachen überwogen und die Figur wurde rund und immer rundlicher…
Die Gewichtszunahme war schwer zu ertragen. Also begann mich mit Kuchen oder Pizza vollzustopfen, um mir danach den Finger in den Hals zu stecken. Die Magersucht hatte sich in eine Boulemie gewandelt. Es war eine schwere Zeit. Ich war in meine erste Wohnung gezogen und hatte eine Ausbildung aufgenommen. Wer Boulemie kennt, der weiß auch dass es viel Geld kostet, das viele Essen zu kaufen, was man dann aber wieder hergibt. So war ich immer sehr sehr knapp bei Kasse. Doch die Ausbildung hat mich gestärkt:
Ich hatte einen festen Tagesablauf in der Firma,
ich hatte eine Aufgabe und fühlte mich gebraucht,
ich hatte soziale Kontakte, meine Kollegen und Mitschüler in der Berufsschule
Meine Kollegen sprachen mich auch auf mein Essverhalten an, so dass ich darüber für mich reflektieren konnte und musste. Und so schaffte ich Stück für Stück zurück zu einem (fast) normalen Essverhalten.
Meine Therapeutin sagt mir heutzutage, dass es gut und gesund war, dass der Heilungsweg über die Boulemie ging. So sei dieser Weg nachhaltiger und das Ergebnis stabiler.
Meine Mutter konnte mich eine Zeit lang weder erreichen noch mir helfen. Sie machte sich große Sorgen. Viel später erzählte sie mir, dass sie sich abends vor dem Schlafengehen immer wieder vorgestellt hat, wie es sein würde, wenn ich wieder gesund wäre. Das hatte sie in dem Buch „Die Macht des Unterbewusstseins“ gelesen. Das hatte mich sehr gerührt. Und ich glaube sehr daran, dass es mir geholfen hat wieder gesund zu werden… Wir sind was wir denken. Falls jemand eine/n Betroffene/n kennt und sie/ ihn nicht mit Argumenten überzeugen kann, empfehle ich diese Imaginationsübung.
Warum entwickelte sich eine Essstörung?

Zur Magersucht kommt es meist nur bei sehr ehrgeizigen Menschen. Denn man muss sehr willensstark sein, um sich die lebensnotwendige Nahrungszufuhr verweigern zu können.
Ich habe später viel darüber nachgedacht und reflektiert, warum es zur Esstörung kam. Mein Wunsch war es zum einen gesehen zu werden. Zum anderen wollte ich gerne so zart und zerbrechlich sein wie ein Porzellanpüppchen, weil ich mich im Inneren so fühlte. Ich wollte, dass mir endlich alle Lasten und Belastungen abgenommen werden, die unfairerweise auf meine Schultern gelagert wurden. Ich wollte frei und unbeschwert sein. Ich wollte geliebt sein, Geborgenheit, Schutz und Sicherheit. Viel zu früh wurde meine Kindheit teilweise beendet (mit ca. 6 Jahren) und von mir Verhaltensweisen von einem Erwachsenen erwartet. Z.B. als mein Vater meine Mutter vor unseren Kinderaugen verprügelt oder sie im Schlafzimmer vergewaltigt hat. Das hinterlässt Spuren. Diese Wunden wollten versorgt werden. Doch es blieb aus.
Das Abitur, der Liebeskummer und der Nebenjob waren für mich mit meinen 16 Jahren und meinem seelischen Gepäck einfach zu viel. Meine Seele kollabierte und suchte sich eine Möglichkeit um aus dem Hamsterrad des Alltags auszubrechen und wieder verletzbar, klein und hilflos sein zu dürfen wie ein Kind.
Wie sieht es heute aus?

Heute geht es mir wieder gut. Ich esse normal und habe eine normale Figur. Ich habe gelernt, dass auch Bewegung und Sport ein wichtiger Bestandteil für eine gesunde und gute Figur sind. Allerdings benutze ich den Sport nicht als Kampf gegen meine Pfunde. Mir ist klar geworden, dass mir Sport nur gut tut, wenn ich daran Freude habe und ich mich danach vital und nicht kaputt fühle. Bewegung hilft auch dabei das Stressniveau zu senken und wieder in den grünen Wohlfühlbereich zu kommen. Die Muskelkontraktion ist der effektivste Weg um Stresshormone abzubauen.
Wenn ich heutzutage z. B. mit Kollegen in der Mittagspause essen gehe, spüre ich schon eine Aufregung und Anspannung. Das tritt häufig auf, auch mit anderen Menschen. Manchmal merke ich auch, dass ich nach dem Naschen etwas aus der Balance gerate und dann mehr frisches Obst und Gemüse esse oder mich etwas mehr bewege um es wieder auszugleichen. Das ist im Verhältnis zu dem, was ich durchgemacht habe, aber nur eine kleine Einschränkung. Mein Kopf ist wieder frei! Ich muss nicht mehr ständig über das Essen Nachdenken und gönne mir auch gezuckerteLebensmittel in kleinen Mengen.
Anmerkung:
Eine Esstörung ist eine schlimme und tückische Krankheit. Nicht zuletzt spielen die aktuellen Schönheitsideale hier eine große Rolle. Frauen und Männer auf Werbeplakaten, im Fernsehen, in Zeitschriften und Schaufensterpuppen etc. sehen schlank und hübsch aus. Diese Menschen leiden meist selbst an einer Essstörung, denn das was wir zu sehen bekommen sind Menschen mit einem zu geringen Body Maß Index. Wir verlieren uns in diesen Bildern und denken, dass wir auch so glücklich und erfolgreich wie die Menschen auf den Plakaten wären, wenn wir nur schlank genug sind. Mir war das gar nicht so sehr bewusst, bis ich die Dokumentation „Embrace – Du bist schön“ vor ca 3 Jahren angeschaut habe. Sie hat mir noch einmal die Augen geöffnet und mich mit ganz viel Mitgefühl für mich selbst beschenkt. Wir unterliegen einer gesellschaftlichen Prägung durch die Medien, die uns täglich unbewusst solche Ideale als normal und erstrebenswert verkaufen. Aber das ist es nicht. Ich finde zum Beispiel die Sängerin Adele wunderschön, obwohl sie ein paar Kurven hat.
Esstörungen kommen schleichend. Zunächst möchten sich viele gesund, bewusst oder sogar tierschützend vegan ernähren. Für die meisten bleibt es auch dabei. Für manche aber wird es zu einer Krankheit, bei der man die gesunde Grenze überschreitet. Manche möchten wieder mehr Kontrolle über ihr Leben erhalten, was eventuell in irgendeiner Weise aus den Fugen geraten ist. So lange man am Anfang steht kann man noch gut entgegen lenken. Man weiß noch was man tut. Aber je länger man daran festhält, desto mehr verliert man die Einsicht krank zu sein. Bei mir war das der Fall. Ich würde jedem, der versucht Probleme über das Essverhalten zu lösen dringend raten sich Unterstützung zu suchen, um wieder in den eigenen grünen Wohlfühlbereich zurück zu finden. Es wird oft sehr schwierig die Esstörung zu heilen, wenn sie sehr fortgeschritten ist. Das ist mir ein ganz wichtiges Anliegen. Bei anderen Süchten muss auf das Suchtmittel verzichtet werden (Drogen, Alkohol). Das ist mit dem Essen nicht möglich. Deshalb finde ich die Magersucht oder Boulemie wirklich sehr herausfordernd. Ich empfehle Betroffenen Gespräche mit dem Hausarzt, guten Freunden, vielleicht auch der telefonischen Seelsorge, dem sozialpsychiatrischen Dienst oder mit Familienangehörigen wie Großeltern, Tanten und Onkel oder Cousinen. Es lohnt sich.